30

 

Claires Herz hämmerte hart gegen ihr Brustbein bei der plötzlichen Kakophonie von Schüssen, die aus dem Funkgerät auf dem Armaturenbrett des Rover hervorbrach. Zusammen mit Dylan und Rio hatte sie den Vorstoß des Teams in Dragos' Versteck gespannt mitverfolgt. Und mit jedem Schritt, den Andreas und die anderen tiefer in diesen furchtbaren Ort vordrangen, wand sich die Angst in ihrem Magen wie eine Schlange.

Jetzt machte diese Angst sich Luft und entlud sich in einem Schrei, während die Geräusche von zischenden Kugeln, Schreien und Chaos das Wageninnere erfüllten.

„Oh mein Gott!“, schrie sie, das Blut gefror ihr in den Adern. „Oh mein Gott! Nein!“

Hektisch tastete sie nach dem Türgriff, aber Rio drehte sich um und packte sie an der Schulter, damit sie sitzen blieb.

„Bleib, Claire. Da kannst nichts für sie tun“, sagte er mit seinem rollenden spanischen Akzent und ernstem Blick unter den buschigen Brauen. Als erneut Schüsse aus dem Empfänger krachten, fluchte er zischend.

Unmittelbar darauf ereignete sich das nächste Desaster, diesmal oben am Eingang der Scheune, wo Renata und Hunter postiert waren.

Im Wagen ertönte Renatas atemlose Stimme. „Ah Scheiße. Wir haben Gesellschaft. Vor der Scheune kommen vier Wachen ins Blickfeld... Mist, ich glaube das sind Gen Eins ...“

Noch mehr Kugeln flogen, das Getöse unterbrach Renata und hallte nun wie Donnerschläge aus dem Wald.

„Oh Gott“, flüsterte Dylan vom Beifahrersitz des Geländewagens ihrem Gefährten zu, als der Orden sowohl im Innern von Dragos' Schlupfwinkel als auch außerhalb unter Beschuss geriet. ..Rio... was machen wir jetzt?“

„Bleibt hier, alle beide“, befahl er grimmig, zog eine übel aussehende Pistole aus seinem Gürtelholster und belud die Kammer. Er stieß die Fahrertür auf und sprang hinaus. „Bleibt im Rover und lasst den Motor laufen, für den Fall, dass hier alles noch weiter den Bach runtergeht und ihr abhauen müsst. Ich geh' rein.“

Die Gen-Eins-Killer ließen einen Kugelhagel auf Reichen und die Krieger niederprasseln, die in dem UV-Gefängnis unter ihnen festsaßen. Es war nicht einfach, das Feuer zu erwidern, denn die Lichtbarrieren blendeten, sie waren sengend heiß und ließen den Kriegern zudem wenig Raum, den Geschossen auszuweichen, während sie aus ihren eigenen Waffen zurückfeuerten.

Von seinem Standort am Rand sah Reichen, dass Tegan einen Schulterschuss abbekommen hatte.

Nikolai hatte es am Oberschenkel erwischt und erst einmal auf den Hintern gerissen, eben lud er eine zweite Pistole nach und feuerte einige Salven aus der Halbautomatik. Und über allem, hinter dem kugelsicheren Plexiglas, das ihn von der Schießerei abschirmte, stand Wilhelm Roth. Immer noch grinste er hämisch, als wäre das alles pure Unterhaltung für ihn, als hätte er diesen Krieg schon gewonnen.

Reichens Zorn kochte hoch.

Schon begann die Pyro in ihm aufzulodern. Er spürte Hitzeschauer über seine Haut wallen und beobachtete, wie die Kugeln, die eigentlich seinen Körper durchbohren sollten, einfach zu Boden fielen, sobald sie auf das übersinnliche Kraftfeld träfe das ihn umhüllte.

„Alle hinter mich!“, schrie er Tegan und den anderen zu und breitete die Arme aus, um den Schutzschild zu vergrößern. „Nicht zu nah ran!“, warnte er. „Die Hitze hält zwar die Kugeln ab, ist aber auch tödlich.“

Die Krieger scharten sich so nahe hinter ihn, wie es eben noch auszuhalten war, und benutzten Reichens Körper als Schild, während sie weiterhin den Beschuss ihrer Angreifer erwiderten. Die hatten den Vorteil, sich ungehindert bewegen zu können, und verfügten offenbar über unendliche Feuerkraft. Reichens Sehvermögen begann sich zu verzerren.

Die Pyro baute sich jetzt schneller auf und brannte heißer denn je, als er zu Roth hinaufsah. Er erlaubte seiner Wut sich auszudehnen und brachte die Flammen in seinem Inneren bewusst noch heftiger zum Lodern. Er beschwor jedes Quäntchen Feuer herauf, über das er verfügte, und befahl ihm, immer heftiger in seinen Eingeweiden zu kreisen, immer noch stärker zu werden, bis über die Schmerzgrenze hinaus.

Und über die Grenze der Vernunft.

Ein letzter Rest Instinkt sagte ihm, dass er eine Katastrophe heraufbeschwor. Doch er schob alle Vernunft beiseite und schürte das Feuer weiter, und sein Bedürfnis nach Rache - nach letzter, blutiger Gerechtigkeit - brannte ihm auf der Zunge wie starker Schnaps.

„Wilhelm Roth“, brüllte er finster und richtete seinen gesamten Hass und all seine weiß glühende Energie auf den Mann, der ihm so viel genommen hatte - schon bevor er die Abschlachtung von Reichens Sippe in seinem Dunklen Hafen angeordnet hatte. „Heute Nacht stirbst du, Roth!“

Reichen konzentrierte sich auf seine Gabe, ballte die Hand zur Faust und stieß sie durch die UV-Lichtstangen der Zelle.

Außer von der Hitze, die ihn bereits durchströmte, fühlte er kein Brennen. Er sah hinauf und war zutiefst befriedigt über die jähe, fassungslose Verblüffung auf Roths Gesicht. Nun grinste er selbst, und mit diesem Grinsen voller Hass und tödlicher Entschlossenheit trat Reichen mit einem Aufschrei, in dem sich Triumph und mörderische Wut mischten, aus dem Käfig des Ältesten.

Die beiden Gen-Eins-Killer ballerten mit ihren nutzlosen Waffen auf ihn. Reichen sah zu ihnen hinauf, Hitzewellen mit der Intensität von Kernkraft schlugen aus seinem Körper. Er ließ Energie in seine geballten, erhobenen Fäuste fließen, dann entfesselte er sie auf die beiden Gen-Eins-Killer. Zwei Feuerbälle schössen aus seinen Handflächen. Die wirbelnden weiß glühenden Kugeln trafen ihre Ziele in Sekundenschnelle und ließen die Vampire auf der Stelle in Flammen aufgehen. Ihre Körper und Waffen zerstoben zu Aschewolken, geschmolzenes Metall regnete vom Absatz der Doppeltreppe herab.

„Scheiße, schaut euch das an!“, rief einer der hinter ihm zusammengedrängten Krieger, doch Reichen hatte keine Zeit, diesen kleinen Sieg auszukosten.

Denn jetzt starrte Roth mit panikgeweiteten Augen herunter und trat von der Scheibe zurück, als wolle er sich aus dem Staub machen.

Reichen duckte sich und sprang in die Luft. In einer fließenden Bewegung hob er, in Feuer gehüllt, vom Boden ab und flog zu der breiten Plexiglasscheibe hinauf, die ihn von seiner Beute trennte. Er fixierte Roth, und mit entblößten Zähnen und Fängen zerschmetterte er die Scheibe und sah zu, wie sie in eine Million schmelzende Teilchen zerbarst.

Mit offenem Mund starrte Wilhelm Roth die gewaltige, höllische Feuersäule an, die Andreas Reichen in ein namenloses Grauen verwandelt hatte.

Er hatte begriffen, dass die einzigartige Gabe dieses Stammesvampirs Pyrokinese war, aber das... damit hatte niemand rechnen können.

In seiner Gewalt hatte es etwas Fantastisches, und Roth konnte nicht anders, als Reichen sprachlos vor Staunen und Angst anzustarren, während dieser langsam auf ihn zukam. Seine Schritte hinterließen schwarze Brandflecken auf dem Betonboden. Die Neonröhren an der Decke platzten und rauchten, als er unter ihnen hindurchging und sich zentimeterweise durch die Beobachtungskabine bewegte. Roth wich zurück. Er spürte, wie das Feuer, das Reichen aussandte, sein Haar und seine Haut versengte.

„Meinst du, du könntest irgendwas damit erreichen, wenn du mich umbringst?“, fragte er die glühende Gestalt, die sich ihm in eindeutiger Tötungsabsicht näherte. „Du hast diesen Ort gesehen, Reichen. Und kannst dir zusammenreimen, wofür er all die Jahre genutzt wurde. Dragos hat hier unten seine eigene Armee gezüchtet. Und noch viel mehr als das, er ist jetzt nicht mehr aufzuhalten.

Glaubst du wirklich, mein Tod würde an diesem gewaltigen Gesamtprojekt etwas ändern?“

„Für Claire schon“, kam die Antwort, düster und vom Feuer verzerrt. „Und für mich auch.“

Roth wich immer weiter zurück, bis sich ihm die Regler und Schalter des Kontrollpults für den UV-Käfig in den Rücken bohrten. „Lass mich gehen. Dann werden deine Freunde da unten in dieser Zelle am Leben bleiben.“

„Du kannst keinem was zuleide tun. Nicht mehr.“

Reichen ließ seinen Blick über das Kontrollpult wandern. Schaltkreise begannen zu knistern und produzierten Funkenregen und einen beißenden Geruch von Elektrosmog. Roth musste sich ducken, um den kleinen Explosionen auszuweichen, und Reichens sengender Blick trieb ihn bis in eine Ecke des Raums, wo er sich niederkauerte. Roth fletschte die Zähne, wütend darüber, so in die Enge getrieben worden zu sein. Noch dazu von diesem Mann, dem er schon viel zu lange den Tod wünschte.

Als Reichen, dem Mordlust aus jeder Pore seines Körpers loderte, näherkam, stürzte sich Roth unvermittelt auf einen der Schalter des Kontrollpults.

Er sah ein, dass er diesem Kampf nicht mehr aus dem Wege gehen konnte, aber er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass er allein dabei draufging.

Mit entschlossenem Grunzen schlug Roth auf den Panikschalter, der die Notsprengung des Labors aktivierte. Sofort begannen über ihren Köpfen Sirenen zu heulen. Der Alarm kam aus allen Richtungen und signalisierte den Beginn eines unwiderruflichen Countdowns.

Roth kicherte. „Mein Gott, das ist es fast wert - zu wissen, dass ich hier unten sterbe, zusammen mit dir und dem größten Teil des Ordens. Du solltest dich sehen... deine Niederlage steht dir förmlich ins Gesicht geschrieben, Reichen. Grauen, Wut, nackter, seelischer Schmerz... alles in deinen Augen.“ Er seufzte bewusst theatralisch. „Ich wünschte nur, wir könnten Claire mit uns nehmen, wenn dieser ganze gottverdammte Ort in die Luft fliegt - und zwar in fünf, äh, nein, in vier Minuten und neunundvierzig Sekunden.“

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